Newsletter Mai

Rudolf Steiner zu Denken und Meditation – Günter Röschert über das absolute Eine – Robin Schmidt berichtet vom Mind and Life Institute – Sommertagung in Zürich – Projekt.Zeitung: Schritte ins Ungewisse —–

„Diese ganze Stellung zum Denken muss anders werden, wenn der Mensch in die übersinnliche Welt eintreten will. Er muss sein Denken aktivieren. Ich habe nach einem alten Gebrauch dieses Aktivieren des Denkens ‚Meditation’ genannt.“
Selten hat Rudolf Steiner so deutlich gesagt, was er unter Meditation versteht, wie in diesem ganz späten öffentlichen Vortrag am 26. Mai 1924 in Paris (GA 84). Dass sie mit einem Aktivieren des Denkens beginnt – was wohl so ungefähr das Gegenteil von dem ist, was weithin unter Meditation verstanden wird. Die Aktivierung des Denkens war aber für Steiner der erste Schritt, den er auch Imagination nennt: „Sie besteht darin, dass wir … aus der inneren Kraft unseres Seelenlebens einen übersichtlichen Gedankeninhalt möglichst einfacher Art in den Mittelpunkt unseres Bewußtseins stellen, und durch eine gewisse Zeit hindurch, mit Ausschluss jeglicher anderen Aufmerksamkeit, die ganze Aufmerksamkeit der Seele auf diesen einen seelischen Inhalt richten.“ Erst danach, in einem zweiten Schritt – der Inspiration – geht es darum, „alles, was wir in dieser Weise an erkraftetem Denken gewinnen, wiederum aus unserem Bewußtsein fortzuschaffen. … Wenn es uns aber gelingt, ihn wegzuschaffen, so ist etwas eingetreten, was sonst nie da ist. Im menschlichen Seelenleben ist dann eingetreten eine völlige Leerheit des Bewußtseins. … Wir sind in dem Zustand des boßen Wachens, ohne dass dieses Wachen einen Seeleninhalt hat. Wir richten ein verstärktes, erkraftetes Bewußtsein in die Leerheit der Welt hinaus. Wir schlafen nicht ein, indem wir diese Verrichtung machen, sondern wir bleiben wach, aber wir stehen zunächst wie für einen Augenblick nur dem Nichts gegebenüber. Das bleibt nicht lange. Wenn wir also bloßes Wachen in unserem Bewußtsein gehalten haben, wirkliches leeres Bewußtsein, dann dringt eine geistige Welt in uns ein.“
Und als dritter Schritt, der zur Intution führt, tritt hinzu die Liebe: „durch das Weiterentwickeln dieser Liebefähigkeit gelangen wir zuletzt dazu, … dass wir nicht nur andere Wesen sehen, sondern auch mit diesen anderen geistigen Wesenheiten – wir selbst sind dann Geist – so in Beziehung treten können, wie wir mit physischen Menschen auf der Erde in Beziehung getreten sind.“
Die Darstellung macht deutlich, dass Steiner die aus der östlichen Meditation stammende Befreiung von allen Anhaftungen ebenso wie die Liebe zu allen Wesen integriert, ihr aber das Denken und seine Verstärkung zugrunde legt, an das sich auch die meisten seiner Übungen richten: weil das Denken schon in sich selbst die Kraft birgt, Mensch und Welt zu verbinden (s. dazu den April-Newsletter). Nach welcher alten Tradition Steiner allerdings das Aktivieren des Denkens als Meditation bezeichnet, konnte bisher nicht aufgefunden werden.

Steiners Anliegen und das Ziel seiner Meditation war die Begegnung mit konkreten geistigen Wesenheiten. Geistiges ist für Steiner immer konkret und wesenhaft. Der einheitliche Urgrund des Seins, die Welt, die aller Differenzierung zugrunde liegt – und die in der östlichen Meditation angesteuert wird – , hat für Steiner hingegen nicht im Zentrum des Interesses gestanden. Ein kürzlich erschienenes Buch von Günter Röschert „Metaphysik der Weltentwicklung“ umkreist die Frage, warum das so ist.  „Die höheren Hierarchien haben eine aktive Seite – von ihr berichtete Rudolf Steiner mit einer in der Geistesgeschichte noch nicht dagewesenen Intensität. Sie haben aber zuvor ein kontemplative Seite, und diese deutet unabweisbar auf die reine Lichtwelt des absoluten Einen.“ Diese zweite Seite findet Röschert bei Steiner nur anfänglich berücksichtigt.
Das Buch ist eine Spezialdarstellung anhand von Steiners „Geheimwissenschaft im Umriss“. Es enthält zunächst einen Überblick über die philosophische Idee des absoluten Einen seit Platon und schildert dann Steiners Aufgreifen dieser Idee im Frühwerk und schließlich in der „Geheimwissenschaft“. Für mit Steiners Werk ein wenig vertraute Leser dürfte Röscherts Buch ausgesprochen anregend sein und es wäre ihm zu wünschen, dass die von Röschert aufgeworfenen Fragen weiter bedacht werden.

Vom 26. bis 29. April fand in Denver, Colorado, USA das International Symposia for Contemplative Studies des Mind and Life Institutes statt. Robin Schmidt berichtet:
„Mehr als 700 Teilnehmer aus der ganzen Welt – mit einer Warteliste von 200 Teilnehmern – hatten die Gelegenheit, den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Untersuchung von Meditation kennenzulernen und zu erfahren, wie weit Ansätze aus spiritueller Praxis und „Mindfulness“ das kulturelle Leben bis in die medizinische, pädagogische und psychologische Praxis durchdringen und in ihren positiven Effekten nachweisbar sind.  Das Programm war durchgehend als wissenschaftlicher Kongress veranlagt (Vorträge, Podien, Postersessions), enthielt aber auch spirituelle Momente wie z. B. morgendliche Meditationen, angeleitet von einem Benediktinermönch, einem buddhistischen Mönch sowie einer erfolgreichen Meditationslehrerin in den USA. Die Hauptvorträge und Podiengespräche waren mit renommierten Wissenschaftlern aus den USA und Europa besetzt; die meisten, so wurde zwischen den Zeilen deutlich, gehen einen meditativen Weg.
Einen Schwerpunkt der Forschungen bildet – entsprechend der Geschichte des Mind & Life Institutes mit seiner Entstehung aus den Dialogen mit dem Dalai Lama – die neurowissenschaftliche und psychologische Untersuchung der Effekte von buddhistischer Meditation. Dabei waren die heutigen Protagonisten dieser Forschungen sämtlich anwesend und berichteten von der Entwicklung, den Schwierigkeiten und neuesten Einsichten auf diesem Gebiet. Daneben lässt der an der Konferenz breit vorgestellte und inzwischen gut nachweisbare Nutzen von „Mindfulness“ z.B. in der psychologischen Therapie, der Kleinkindpädagogik, im Universitätsunterricht mit Studierenden, der Sterbebegleitung oder bei Führungskräften aufhorchen. Eine säkuläre, für das alltägliche Leben nutzbare Form von ursprünglich spirituellen Übungen, die zur Bewältigung von entscheidenden Problemen der Gegenwart beitragen (Stress, Gewalt, Depression, Burnout, u.v.a.m), findet ihren Weg Schritt für Schritt in die Alltagskultur, begleitet und unterstützt von akademischer Forschung. Anthroposophische Beiträge hierzu sind hier leider noch nicht präsent.
Einige wenige Beiträge, insbesondere aber der neue Präsident des Mind & Life Institutes Arthur Zajonc, wiesen auf eine dritte Position hin: dass es nicht nur um die akademische Untersuchung einer spirituellen Praxis oder einer pragmatischen Nutzung spiritueller Praktiken im Alltag gehe, sondern auch um eine andere Form von Wissenschaft. In seiner Rede, in der es um die neue Richtung ging, die er diesem Netzwerk von etwa 17.000 Menschen mit seinem neu gebildeten, hochkarätig besetzten Vorstand geben möchte –  sprach Arthur Zajonc klare Worte: dass Mind & Life grösser als Buddhismus ist, dass es verschiedene Traditionen, aber auch neue Methoden fördere und integriere. Es gehe insbesondere auch darum, dass meditative Praxis selbst ein Beitrag zur Erkenntnis der Welt sein könne. Daran soll die nächste Phase der Entwicklung von Mind & Life ausgerichtet sein, das alle diese Forschungen und Aktivitäten einem höheren Ziel dienen sollen: ‚becoming more fully human’. Das Programm und die Abstracts der Beiträge sind hier einsehbar.“

Vom 15. bis 20. Juli 2012 wird in Zürich die alljährliche Sommertagung stattfinden, diesmal zum Thema „Wesen im Sozialen. Erkenntnis und Hellsehen“. In Vorträgen und reich bemessener Übungszeit ist Gelegenheit, verschiedene meditative Ansätze kennenzulernen, beispielsweise bei Dirk Kruse, Thomas Mayer, Agnes Hardorp, Markus Buchmann und Anna-Katharina Dehmelt.

Und zum Schluss noch ein Hinweis etwas anderer Art: bevor Elizabeth Wirsching die Koordination der Goetheanum Meditation Initiative übernahm, hat sie elf Jahre die Jugendsektion am Goetheanum geleitet. Dieser Zeit ist die neueste Ausgabe der projekt.zeitung mit dem Titel „Schritte ins Ungewisse“ gewidmet. Mit lyrischen Texten von Elizabeth Wirsching und der Redaktion von Benjamin Kolass wird man Zeuge eines Prozesses, der zwar Meditation nicht unmittelbar zum Thema hat, aber in seiner Offenheit, mit allen Risiken und Geschenken, Ausdruck einer auf Meditation gegründeten Lebensweise ist. Eine bewegende Lektüre!

Wir freuen uns auch weiterhin über alle Infos, die mit unserem Thema zusammenhängen. Und Gelegenheit zum Kommentieren haben Sie hier:

Kommentare

  • Liebe Frau Dehmelt,
    vielen herzlichen Dank für die sehr interessanten Informationen!
    Herzliche Grüße aus Bad Nauheim
    Uwe Mos

  • Hallo Herr Mos,
    herzliche Grüsse aus Nürtingen
    B. Elers

  • Liebe Frau Dehmelt,

    Dank für die Anregungen. Ich habe Röscherts Buch „Metaphysik der Weltentwicklung“ bestellt.
    Eine Frage beschäftigt mich sehr: Ob wir nicht mit dem Wort „Denken“ oft etwas assoziieren, was gerade nicht gemeint ist? Meditation als Erkraftung des Denkens verstehe ich als Erkraftung des Bewusststeins, also das genaue Hinschauen, wie wir es bei der Sehkraft auch kennen: Wenn ich nicht mit meiner Aufmerksamkeit dabei bin, sehe ich nichts.
    Arthur Zajonc (Catching the Light) und Georg Kühlewind (Aufmerksamkeit und Hingabe / Licht und Freiheit) sind da außerordentlich hilfreich, zu verstehen, was wir tun, wenn wir unsere
    Aufmerksamkeit fokusieren oder eben leer und empfänglich machen, auf dem Hintergrund der Tatsache, dass alles Sichtbare und Unsichtbare schließlich „gestaltetes Bewusstsein“ ist…
    Herzliche Grüße!

    • Lieber Herr Struelens,
      ja, ich sehe dieses Problem auch: dass das Wort ‚Denken‘ in die Irre leiten kann, oder: es erschwert, das richtige Tor zu finden. Weil das gewöhnliche Denken es einfach zustellt. Ein wie guter Wegweiser zum richtigen Tor Georg Kühlewind ist, habe ich leider auch erst kürzlich entdeckt.
      Aber auf dem Rückweg ist es dann ganz deutlich, dass das aktivierte Bewußtsein ins gewöhnliche Denken hinein abstirbt.
      Herzliche Grüße und bis bald!