Johannes Wagemann: Meditation – Forschungsprojekt und Entwicklungsweg

Auf dem Heimweg – ein kleiner Schock – mein arglos schweifender Blick fängt etwas Beunruhigendes ein: An einem Dachgaubenfenster scheint eine verzweifelt zappelnde Langhaarkatze zu hängen und um ihr Leben zu kämpfen. Im nächsten Augenblick wird mir klar, dass es bloß ein hellbraunes Schaffell ist, das von einer energischen Hand gründlich ausgeschüttelt wird.
Eine Sinnestäuschung? Wohl kaum, denn der Grund für den Gestaltwechsel ist weder in meinem Sinnes-Nerven-System noch dem ihm vorliegenden Material zu finden. Schon Goethe wusste, dass nicht die Sinne trügen, sondern das Urteil. Dass wir aber unablässig urteilend durch den Alltag gehen, bleibt uns meist verborgen. Erst wenn unser urteilender Weltzugriff merklich versagt, beginnen wir zu ahnen, dass wir es sind, die greifend unsere Welt gestalten. Durch Meditation, sei es mit offenen oder geschlossenen Augen, können wir lernen, unseren Anteil daran schrittweise zu begreifen, zu beobachten und in unser waches Bewusstseinsleben zu integrieren.
Das Fremde, Unvertraute ist wie ein wildes Tier, das uns anfällt, von außen wie von innen. Ob wir es in die Flucht schlagen, ob wir es gewaltsam packen und es sich dann zappelnd in unserem Griff windet oder ob wir es in Zwiesprache friedlich zu zähmen vermögen, hängt von unserer Fähigkeit zur Wirklichkeit ab. Diese menschliche Kernkompetenz steht und fällt damit, wie bewusst und diszipliniert wir mit den beiden Grundformen unserer eigenen Aktivität umgehen können. Fortwährend pendeln wir hin und her zwischen einem Fokussieren auf Einzelheiten, das schließlich jeden Zusammenhang verliert, und einer radikalen Öffnung für den sinnstiftenden Möglichkeitsraum, in den sie aufs Neue eingebettet werden können. Indem wir mit zunehmend wachem Sinn verfolgen, wie wir derart zwischen Unvertrautem und Urvertrautem vermitteln, begeben wir uns auf den Weg, uns unseren eigenen Sinn zu vermitteln.

Johannes Wagemann ist tätig als Waldorflehrer, Bewusstseinsforscher und Philosoph