Andreas Meyer: Die Beobachtung der Ablenkungen 

Bei Übungen jedweder Art traten und treten immer wieder sogenannte „Ablenkungen“ auf. Obwohl ich fest entschieden hatte, meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf ein konkretes, vorgestelltes Dreieck zu richten, landete ich plötzlich bei der Vorbereitung des nächsten Seminars oder der Erinnerung an eine Begegnung. Wie konnte das geschehen? Wie geriet ich in diese Thematik, die ich doch auf keinen Fall wollte?
In der ersten Zeit meines erkenntnisorientierten Übens, das heißt bei genauer innerer Beobachtung der Bewusstseinsvorgänge, war es trotzdem schlichtweg ein Rätsel. Erst nach einiger Zeit des Abschweifens in die Ablenkung wachte ich darin wieder auf und kehrte zum Thema zurück. Nach längerer Übungspraxis wurde die Verweildauer in der Ablenkung immer kürzer und kürzer, bis schließlich die Fähigkeit eintrat, sie sofort zu bemerken, so wie man einen Versprecher manchmal sofort bemerkt und korrigiert. Noch immer war aber unklar, wie ich in die Ablenkung hineinkam, es entzog sich meiner Beobachtungsfähigkeit. Es schien wie ein Schleier über dieses Geschehen gezogen.
Nachdem sich über einige Jahre des kontinuierlichen Übens eine stabilere und länger andauernde Konzentrationsfähigkeit ausgebildet hatte, trat folgende Beobachtung ein. Ich konnte die Ablenkung wie „von der Seite her“ (im Vergleich zum Hauptstrom meiner Aufmerksamkeit) herankommen sehen, riechen, schmecken und erleben, was sie mir präsentieren will, mit welcher Versuchung sie sich „anschleicht“. Beispielsweise lockte sie mich mit bestimmen Ideen, zu Themen, über die ich schon länger nachdachte. Das ist natürlich beinahe unwiderstehlich. Doch die Ablenkung dringt nicht einfach in mich ein, sondern ich wende mich der Ablenkung zu, gebe stets meine Zustimmung. Keine Ablenkung tritt ohne innere Zustimmung ein: das ist der zuvor unbeobachtete Vorgang. Das, was in mir zustimmt, sind meine Neigungen, in diesem konkreten Fall meine Neugier auf diese Ideen, die ich doch gar nicht selbst gedacht habe. Es stellt sich die Frage: Wer kennt sich so gut in meinem Seelenleben aus, dass genau diese Neigung angesprochen wird?
Bei vertiefter Meditation über diese Fragestellung zeigte sich schließlich das Wesen, welches sich hinter dem harmlosen Ausdruck „Ablenkungen“ verbirgt. Es war ein mächtiges Erlebnis damit verbunden, diesem Wesen klar zu begegnen und ich werde diese Erfahrungen wohl nie vergessen.

Andreas Meyer (1963-2016) war als Therapeut, Dozent und Buchautor tätig.