Anna-Katharina Dehmelt: Vom Üben zum Ausüben. Brief an einen Freund

Das Weiten des Bewußtseins nennen wir oft ‚Üben’, eine freilich sehr abgekürzte Bezeichnung für das, was damit gemeint ist. Ich habe vor Jahren mal einen Abend gemacht über den Begriff des Übens, der dann von einigen Anwesenden total demontiert wurde. Sie vertraten die Auffassung, dass Üben Zwang und von außen auferlegte Disziplin sei und deshalb eines freien Geistes und souveränen Menschen unwürdig. Alles müsse der unmittelbaren Einsicht entspringen, und jede disziplinierende Maßnahme knechte das leuchtende Individuum.
Die Demontage des Übens hat mich damals sehr getroffen, nicht nur, weil es mir doch eigentlich um Bewußtseins-Weitung ging, sondern auch, weil ich, seit ich acht war, durch Jahrzehnte tagtäglich ein Musikinstrument geübt hatte und es mir selbstverständlich geworden war, dass man, wenn man mit etwas vorankommen will, Disziplin braucht. Denn ein gewisses Maß an Regelmäßigkeit, an Wiederholung, gehört einfach dazu, ebenso wie eine Richtung, ein Ziel, die das Üben einschlägt. Üben hat damit zu tun, sich zu etwas hinzuarbeiten, was noch nicht da ist. Und das ist immer auch mit einem Überwinden von Widerständen verbunden.
Zunächst geht das Üben auf das Ausbilden von Fertigkeiten. Die Technik, die Methodik und die Schrittfolge, die kannst Du lernen und auch beherrschen, vielleicht wird sie sogar Routine. Dass sich Dir aber das Gebiet, für das Du Fertigkeit, Technik, Methodik und Schrittfolge ausbildest, wirklich zuneigt, das kannst Du nur erwarten.
Dann aber, wenn der Musiker Musik macht, der Denkende in die Weltgesetzmäßigkeit eintaucht und der Betende Gott trifft, verliert das Üben seinen Geruch nach Disziplin und Turnhalle. Es wird zum Ausüben. Die Fertigkeit wird zur Fähigkeit, zum Organ, mit dem Du die neu erschlossene Welt empfängst und zugleich in ihr tätig bist. Du merkst irgendwann, dass Du etwas pflegst, etwas kultivierst, dass davon der eine Teil in Dir selbst ist und der andere in der Welt. Dass beide zusammenwollen. Und dass sie sich im Pflegen immer näher kommen.
Und das ist wunderschön.
Wenn das Ausüben bedeutsamer wird als das Üben, und das Üben doch ins Ausüben integriert ist, dann wird es zum heiligen Spiel zwischen Schon-Können und Noch-Nicht-Können, zwischen Trennung und Verbundenheit. Es wird zum Stehen auf der Grenze zwischen dem, wo ich längst bin und dem, wo ich hin will. Wenn das Üben zum Ausüben wird, wird das Erreichen eines bestimmten Ziels zur Nebensache – weil das Ausüben seinen Sinn in sich selber trägt. Und dieser Sinn dann strahlt aus und wandelt. Dich. Mich. Die Welt.
Das Auge bildet sich am Licht, das Licht bildet das Auge. So ist es mit diesen Organen, mit denen man Fähigkeiten und Tugenden für die geistige Welt ausbildet, auch. Die Steiner-Übungen enthalten ein Licht, eine Wärme, eine Weltenkraft, an denen man Organe für dieses Licht, diese Wärme, diese Weltenkraft ausbilden kann.