Terje Sparby: Meditation – Erkenntnis und Heilung

Meditiert man, um zu erkennen, oder um geheilt zu werden? Man findet beides in den meditativen Traditionen, und anscheinend kann man jedes separat unternehmen. Man kann versuchen, seinen Bewusstseinshorizont zu erweitern, um das Gehemnis des Seins zu entschlüsseln und aus einer göttlichen Sicht die Welt zu betrachten. Oder man kann versuchen, seine Gefühle, etwa Ärger, in den Griff zu bekommen, so dass das Leiden vermindert wird und eine Heilung stattfindet.

Geht man aber tief in der einen oder anderen Richtung, kommt man zwangsläufig von Einem zum Anderen. Man wird nicht geheilt – es passieren keine dauernden, heilenden Änderungen im Gefühlsleben – , ohne dass man etwas erkennt. Man kann sich durch Meditation wohl eine Zeitlang betäuben, aber tiefgreifende Verwandlungen werden nicht ohne Wahrheit erreicht. Umgekehrt: Sucht man durch die Meditation nur die Wurzel des Seins zu entdecken, ohne davon selbst berührt zu werden, ohne mit seinem ganzen Wesen sich etwas Größerem anzunäheren – wie kann das Wahrheit sein?

Die Gefühle, die das Ich im Erleben von der Welt trennen, schaffen nicht nur Leid, sondern trennen uns auch tatsächlich von der Welt und damit auch von der Wahrheit. Diese trennenden Gefühle kommen in dem, was man Selbstgefühl nennen könnte, zusammen. Das Selbstgefühl ist aber konstitutiv für unser Bewußtsein. Damit könnte man auch sagen, dass Unwahrheit für unser Bewusstsein konstitutiv ist. Nur dadurch, dass wir Gefühle entwickeln, die das Ich bewahren und es gleichzeitg in seiner Umgebung aufgehen lassen, wird Erkenntnis entstehen können.

Weltauschließendes Selbstgefühl ist nicht nur die Quelle des Leids, sondern auch der Grund von Unwahrheit. Infolgedessen wird man nicht ohne Heilung erkennen können und nicht ohne Erkenntnis geheilt werden.

Beides zu veranlassen ist die Grundwirksamkeit der Meditation.

 

Terje Sparby (*1979) ist Philosoph, Anthroposoph, Norweger und arbeitet derzeit an der Humboldt Universität Berlin an einem Forschungsprojekt mit dem Titel „Zwischen der Unendlichkeit des Denkens und der These einer neuen Ontologie. Kant, Hegel und der Deutsche Idealismus.“