Robin Engelen: Vom klingend Wesenhaften

Musik ist eine Wesenheit, die sich auf der Grenze zwischen sinnlicher und geistiger Welt bewegt und in beide Welten gleich mächtig hineinwirkt. Sie erklingt in der physischen Welt, entfaltet sich auf dem Schauplatz unserer Seele, und führt uns durch sich selbst zum Kontakt mit geistig Wesenhaftem. Sie offenbart sich uns durch das Hören und hilft uns auf diese Weise, uns vom beherrschenden Sehsinn zu befreien. Auch entfaltet sie ihr Wesen in wortloser Begrifflichkeit. Im Umgang mit geistigen Welten hilft uns die Musik, wenn wir durch sie die Zeit in ein Räumliches und die gewordene Welt in eine Werdende verwandeln.

Musik ist eine Sprache, die unsere Herzen auf intime Weise mit dem Kosmos verbindet. Im Musizieren und im Hören von Musik verknüpfen wir Erleben und Verstehen zu einer Einheit. Dadurch bildet Musik eine Brücke von der Inspiration zur Intuition. Sie lehrt uns, Wesenhaftes der Qualität nach zu erkennen und die geistige Welt in ihrer Vielfalt von Wesen zu unterscheiden. Indem wir uns in das Zusammenspiel von Einklang und Mehrklang, Bewegung und Gegenbewegung, Übergang und Verwandlung hineinleben, lehrt Musik uns zugleich geistige Harmonielehre. Üben wir, Musik bewusst zu hören oder sie in uns erklingen zu lassen, lernen wir, den Zusammenhang von Einzelnem und Ganzem zu erfassen und auf diese Weise schrittweise mit den Eigenarten oder Gesetzmäßigkeiten geistiger Wesenheiten umzugehen.

Wir können jeden Klang, jedes Geräusch als Meditationsinhalt nehmen, um uns in die Symphonie der Welt als Hörende hineinzufühlen. Jeder Klang wird durch Naturwesen getragen, hinter welchen sich wiederum Hierarchien von weiteren Wesenheiten entfalten. Durch das Aktivieren des geistigen Hörsinns vertiefen wir uns in unsere Umgebung. Hörend formt sich die Fülle unserer Eindrücke zu einer Klanglandschaft, die sich wiederum unserem Erleben öffnet zu einem klangmächtigen Konzert von ineinander und miteinander schaffenden Engelwesen. – Ein Gebiet, das uns meditativ in eine ganz eigene Sphäre rückt, sind diejenigen Geräusche, die als Produkt unserer Zivilisation unser Leben umgeben: Maschinen, Baulärm, digitale Tonträger. Diese stehen in einem unvollkommenen Verhältnis zur Welt, da sie zwar Naturwesen sind, von uns aber unbewusst und ohne Zusammenhang mit den Gesetzen des Lebendigen geschaffen werden. Hier öffnen sich für die Zukunft vielfältige Aufgaben – gerade für die meditative Beschäftigung.

Die vom Menschen bewusst als Abbild geistiger Gesetze geschaffene Musik ist ein weiterer Bereich. Er öffnet unseren Sinn für den Vielklang der menschlichen Seele. Wir können erleben, wie Musik uns zusammenführen und erfrischen kann. Sie hat die Kraft, uns zu verwandeln und mit den Quellen unseres ureigenen Wesens zu verbinden. Doch in gleichem Maße, wie wir durch Musik uns über uns selbst aufklären können, belehren wir die geistige Welt über unser Innenleben. Wir können durch Musik unsere Seele öffnen und sie sichtbar machen für die geistige Welt. Besonders im Gesang können wir unsere Willensimpulse hinauftragen zu hohen geistigen Wesenheiten, welche blind sind für Erdengedanken, die an das Wort gebunden sind. Entscheidend ist die Stärke der Hingabe beim Musizieren oder Hören. Das Mass innerer Anteilnahme entscheidet, welchem Wesen wir entgegen treten. Ist sie groß genug, bildet die Musik selbst unsere inneren Wahrnehmungsorgane, mit denen wir sie als lebendiges Wesen erleben und die hinter ihr schaffenden Wesen erkennen können.

Robin Engelen (*1974) ist Dirigent.