Christof Lindenau: Von meditativem Forschen

In einer Vollmondnacht ist der Mond nicht deswegen sichtbar, weil er selber leuchtet, sondern weil er von der Sonne beschienen wird. Aber auch der Sonnenschein wäre unsichtbar, wenn er nicht auf den Mond auftreffen undzurückgeworfen würde. – Ebenso wird auch für das gewöhnliche Wachbewusstsein das Denken nur dort sichtbar, wo es an der Gegenständlichkeit der sinnenfälligen Welt Vorstellungen bildet. Und die sinnenfällige Welt wird ihrerseits nur dadurch erfahrbar, dass unser Denken sie fortwährend für uns vergegenständlicht.

Schon das Erleben dessen, was wir mit Rudolf Steiner „reine Wahrnehmung“ und „reines Denken“ nennen können, setzt daher dem gewöhnlichen Wachbewusstsein gegenüber das Ringen um einen  Ausnahmezustand  voraus. Dieser entsteht, indem der Mensch übt, sowohl in seinem Denken möglichst weit die eigene Neigung zum gewöhnlichen Vorstellen, als auch in seinem Wahrnehmen die Neigung zum gewöhnlichen Vergegenständlichen soweit als ihm nur möglich zurückzudrängen.

Jedoch auch die meditative Arbeit bedarf jedes Mal einer ebensolchen „Zurückdrängung“, weswegen eine bereits vorhandene Praxis in Sachen reiner Wahrnehmung  und reinen Denkens für diese Arbeit eine eminente Bedeutung hat. Denn dadurch kann jede Einzelheit der wahrgenommenen natürlichen oder kulturellen Welt um uns herum zu so etwas wie dem Bilde einer Mondsichel oder einer Mondenschale werden. Einem Bilde, in dem der dunkle Teil dann das von uns Zurückgedrängte anzeigt. Und die Aufgabe der anthroposophischen Meditationbesteht nun darin, diesen Teil mit einem Inhalt zu füllen, der sich nicht, wie der am Monde sichtbar bleibende Teil, im sinnlichen, sondern erst im geistigen Sonnenlichte entdecken lässt. Ob es sich dabei nun um eine durch geistige Forschung bereits vorbereitete Spruch- oder um eine Bildmeditation handelt: stets geht es darum, den so gegebenen Inhalt als eine„Mondensichel“ zu erleben, die es durch die eigene meditative Bemühung zu füllen gilt. Ja, sogar kann schließlich die meditative Arbeit auch an eine einzelne Sinnesqualität fruchtbar anknüpfen.

In der Meditation geht es nun darum, jeden dieser Inhalte zu einer sonnenhaft zu füllenden Mondenschale zu machen. Gewiss wird dies zumeist nur mit schwachen Kräften möglich sein und lediglich stufen- oder gradweise gelingen. Jedoch kommt es hier vorerst nicht darauf, sondern vor allem auf das Streben dessen im Menschen an, was in ihm selber der geistigen Sonne verwandt ist.

Zu diesem Streben gehört – so gut als uns das eben möglich ist – von allem Anfang an um eine forschende Gesinnung zu ringen. Denn was aus einem solchen meditativen Forschen nach und nach entsteht, ist nichts Geringeres als der Beginn dessen, was Rudolf Steiner als die „Wissenschaft des Gral“ charakterisiert. Auch, weil das Vertrauen, das die geistige Welt zu uns Menschen hat, über kurz oder lang zu einer Art von Gespräch führt, in welchem diese Wissenschaft urständet: Zu einem Gespräch, das der meditierende Mensch nun mit jenen Wesen zu führen beginnt, die ihm – der gleichen Evolution der Welt angehörend wie er selbst  – einstmals vorangeschritten sind.

Und eben diese Wesen, die ihre „Menschheitsstufe“ auf früheren Verkörperungen unseres Erdplaneten durchgemacht haben, sind heute in der Lage, uns dabei zu helfen, sowohl ihre Welt bewusst zu betreten, als auch aus dieser Welt unser irdisches Handeln zu befruchten.Und so ist das Ziel eines solchen Forschens zugleich dasselbe, was Rudolf Steiner – wenn er das zentrale Anliegen der Anthroposophie formuliert – als den „Grundstein“ der anthroposophischen Erdenbewegung bezeichnet: „durch menschliche Seelenvertiefung den Weg zum Anschauen des Geistes und zum Leben aus dem Geiste zu finden“.

Christof Lindenau ist Autor anthroposophischer Bücher über Schulung, Meditation und meditative Forschung.