Meditation mit Bild und Wort 
„In mir ist Gott. Ich bin in Gott.“ (1924)
aus: Rudolf Steiner: Heilpädagogischer Kurs,
S. 154ff

„Die Menschen können im allgemeinen auf dem Gebiete der Pädagogik nichts erreichen, weil sie nicht ernsthaftig jemals eine Wahrheit in sich rege gemacht haben. Die besteht darin, daß Sie sich am Abend einleben in das Bewußtsein: In mir ist Gott, in mir ist Gott, oder der Gottesgeist, oder was immer — aber sich dieses nicht bloß theoretisch vorschwätzen, die Meditationen der meisten Menschen bestehen darin, daß sie sich etwas theoretisch vorschwätzen —, und am Morgen so, daß das hineinstrahlt in den ganzen Tag: Ich bin in Gott. — Bedenken Sie nur, wenn Sie diese zwei Vorstellungen, die ganz Empfindung, ja Willensimpulse werden, in sich rege machen, was Sie da eigentlich tun. Sie tun das, daß Sie dieses Bild vor sich haben: In mir ist Gott — und daß am nächsten Morgen Sie dieses Bild vor sich haben: Ich bin in Gott. — Das ist eines und dasselbe, die obere und untere Figur (siehe Tafel). Und Sie müssen einfach verstehen: das ist ein Kreis, das ist ein Punkt. Es kommt nur abends nicht heraus, es kommt nur morgens heraus. Morgens müssen Sie denken: das ist ein Kreis, das ist ein Punkt. Sie müssen verstehen, daß ein Kreis ein Punkt, ein Punkt ein Kreis ist, und müssen das ganz innerlich verstehen.

Sehen Sie, damit kommen Sie überhaupt erst an den Menschen heran. Denn wenn Sie sich erinnern an die Zeichnung, die ich Ihnen vom Stoffwechsel-Gliedmaßenmenschen und vom Kopfmenschen gegeben habe, bedeutet diese Zeichnung gar nichts anderes als die Ausprägung und Verwirklichung dessen, was jetzt in einer einfachen Weise in einer Meditationsfigur vor Sie hingestellt wird. Im Menschen ist das verwirklicht, daß der Ich-Punkt des Kopfes im Gliedmaßenmenschen zum Kreis wird, der natürlich konfiguriert ist. Und Sie lernen verstehen überhaupt den ganzen Menschen, wenn Sie in dieser Weise an ihn herangehen, wenn Sie versuchen, ihn innerlich zu verstehen. Aber zuerst müssen Sie dieses haben, daß die zwei Figuren, die zwei Vorstellungen ein und dasselbe sind, daß sie gar nicht unterschieden sind voneinander. Nur von außen angesehen sind sie verschieden. Da ist ein gelber Kreis, da ist er auch. Da ist ein blauer Punkt, da ist er auch. Warum? Weil das die schematische Figur des Kopfes ist, weil das die schematische Figur des Leibes ist. Aber wenn der Punkt sich behauptet in den Leib hinein, dann wird er eben zum Rückenmark; wenn der Punkt hier sich hineinbegibt, wird dasjenige, was er sein soll in der Kopforganisation, dann eben Rückenmarkansatz (siehe Tafel). Die innere Dynamik der Morphologie ergibt sich Ihnen einfach dadurch. Sie können eine Anatomie, eine Physiologie bekommen, indem Sie von dem ausgehend meditieren. Dann kriegen Sie schon die innere Intuition, inwiefern Ihr Oberkiefer und Ihr Unterkiefer Gliedmaßen sind, inwiefern der Kopf ein ganzer Organismus ist, der aufhockt oben — seine Gliedmaßen sind verkümmert —, in der Verkümmerung sie umbildet zu Kiefern, und Sie bekommen die Anschauung, wie in einem polarischen Gegensatz Zähne stehen und Zehen. Sehen Sie sich nur einmal die Ansätze der Kieferknochen an, so werden Sie die verkümmerte Zehenbildung, die verkümmerte Fuß- und Handbildung darin wahrnehmen.

Aber es darf eben die Meditation, die in solchen Dingen wirkt, nicht die Stimmung haben, meine lieben Freunde: Ich will mich innerlich in ein warmes Nest legen, es soll mir immer warm und wärmer werden —, sondern es muß die Stimmung vorliegen, daß man in die Wirklichkeit untertaucht, daß man die Wirklichkeit ergreift. Andacht zum Kleinen. Ja zum Kleinsten. Es darf nicht das Interesse für dieses Kleine ausgetrieben werden, meine lieben Freunde. Es muß so sein, daß Sie das Ohrläppchen, der abgeschnittene Fingernagel, ein Stück des menschlichen Haares ebenso interessiert, wie Saturn, Sonne, Mond. Denn schließlich ist in einem solchen menschlichen Haar alles andere darinnen, und derjenige, der kahlköpfig wird, verliert ja tatsächlich einen ganzen Kosmos. Es ist tatsächlich so, daß innerlich erschaffen werden kann dasjenige, was äußerlich sichtbar ist, wenn man nur jene Überwindung hat, welche im meditativen Leben eben notwendig ist. Aber diese Überwindung trifft man nie, wenn irgend Spuren von Eitelkeit auftauchen, und die tauchen eben an allen Ecken und Enden auf.“

 

Literatur:
Peter Selg: Das werdende Ich des Menschen. Zur ‚Punkt-Umkreis-Meditation‘ des Heilpädagogischen Kurses.