Einige unabgeschlossene Überlegungen zum Verhältnis von anthroposophischer Meditation zu anderen Traditionen

Von Terje Sparby

Es gibt eine zentrale Herausforderung, wenn man Meditation als Verwandlungsprozess mit den konventionellen Wissenschaften im Verbindung bringen will: man muss überzeugend darstellen, dass in der Meditation eine intersubjektiv reproduzierbare und rational erforschbare Öffnung des Menschenwesens hin zu den tieferen Schichten der Wirklichkeit vorliegt. Im Folgenden werde ich diese Herausforderung entfalten und untersuchen, was die anthroposophische Meditation anbieten kann, um dieser Herausforderung nachzukommen.

Das vordringlichste Problem ist, dass es bisher keine wirkliche Klarheit und keinen Konsens darüber gibt, was anthroposophische Meditation in Theorie und Praxis eigentlich ist. Bestimmte Merkmale werden wohl allgemein anerkannt, wenn sie auch verschieden interpretiert werden, aber ich bin unsicher, ob diese Merkmale wirklich herausstellen, was anthroposophische Meditation von anderen Traditionen unterscheidet. Das wird jedenfalls nach meiner Erfahrung spätestens dann zur Frage, wenn man die Praxis anderer Traditionen aus eigener Erfahrung kennt.

Als die östlichen und westlichen Klostertraditionen im 20. Jahrhundert im Rahmen der zunehmenden Globalisierung in engen Kontakt miteinander kamen, wurde offensichtlich, dass trotz Unterschieden in den grundsätzlichen Überzeugungen die tatsächlichen Erfahrungen westlicher kontemplativer Praxis und östlicher Meditaton nahelegen, dass mystische Erfahrungen universell sind und in dieselben Tiefenschichten der Realität führen.

Ich denke, ähnliches dürfte der Fall sein im Hinblick auf anthroposophische und andere Meditationsformen. Obwohl es Unterschiede in den grundsätzlichen Überzeugungen gibt, kann der Fall eintreten, dass, wenn verschiedene Traditionen zusammenkommen und ihre tiefen meditativen Erfahrungen miteinander vergleichen, die Unterschiede zu verschwinden beginnen.

Das folgende Zitat von Rudolf Steiner beinhaltet im Keim die ganze Methode anthroposophischer Forschung:
„Es wird herbeigeführt eine Art mentaler Hohlraum; der Hohlraum wird geschaffen durch den Meditationsinhalt. Wenn nun der Meditationsinhalt fallen gelassen wird, so kann für ihn ein Inhalt aus der spirituellen Sphäre hereindringen. Beibehaltung der Functionen des Denkens ohne den Inhalt des Denkens. Samadj.“ (GA 267 S. 463)

Wie Johannes Wagemann gezeigt hat, kann die anthroposophische Methode der Meditation charakerisiert werden als Kombination von fokussierter Aufmerksamkeit und offenem Gewahrsein – beides wird in der Meditationsforschung als focused attention (FA) und open monitoring (OM) beschrieben. Die Praxis konzentrierter Aufmerksamkeit beinhaltet die Konzentration auf ein bestimmtes Objekt (Bild, Atem, Mantram etc.). Offenes Gewahrsein beinhaltet, jeden bestimmten Inhalt des Bewusstseins loszulassen, während man wach bleibt für das, was auftaucht. Diese Kategorien sind grob gefasst, um auf verschiedene Formen meditativer Praxis zu verweisen, die zumindest eine gewisse Ähnlichkeit miteinander haben. So ist auch Samadhi eine Kategorie, die verschiedene Formen und Ausmaße meditativer Versenkung bezeichnet.

Ich möchte hier aber nicht in die feineren Unterscheidungen (und Diskussionen) einsteigen, was Samadhi ist. Was mich interessiert, ist die Betonung, die Steiner auf das Denken legt. In der Tat ist die Bedeutung, die das Denken für die anthroposophische Meditation hat, oft für eines ihrer Alleinstellungsmerkmale gehalten worden. Es ist richtig, dass auf das Denken in manchen spirituellen Traditionen herabgesehen wird. Diese Missachtung ist aber einseitig. Es gibt nämlich verschiedene Formen von Denken: diskursives Denken,  das begründend vorgeht, aber niemals eine wirklich tiefe Wahrheit erreichen kann. Dann gibt es eine höhere Form von Denken (im Idealismus als intellektuelle Anschauung oder Intuition beschrieben), die zu tiefer Erkenntnis fähig ist, zum Eins-Werden mit der Wahrheit in einem umfassenden Sinn. Dieses höhere Denken ist auch geeignet, spirituelle Einsichten – die oft für unaussprechlich gehalten werden oder für jenseits dessen, was gemeinhin als ‚rational’ angesehen wird – zu verstehen und zu kommunizieren. Eine gänzliche Zurückweisung des Denkens ist deshalb unangebracht. Wenn auch das diskursive Denken ein Widerstand sein kann, der überwunden werden muss, um sich selbst für eine tiefere Realität zu öffnen, ermöglicht es das intuitive Denken doch gerade, in tieferen Realitäten mit seinem ganzen Sein anwesend zu bleiben und spirituelle Erfahrungen sprachlich zum Ausdruck zu bringen.

Zugleich habe ich aber den Eindruck, dass auch die Betonung, die in der Anthroposophie auf das Denken gelegt wird, einseitig ist. Das schränkt die anthroposophische Perspektive auf Meditation ein und erweckt den Anschein von Exklusivität. Wenn wir – mit Steiner in obigem Zitat – sagen, dass anthroposophische Meditation beinhaltet, zuerst das Denken auf ein Objekt zu fokussieren und dann die Funktionen des Denkens beizubehalten, den Inhalt des Denkens aber fallenzulassen, macht das die Bedeutung des Denkens klarer. Wenn wir untersuchen, was das in der Praxis bedeutet, so scheint es mir offensichtlich, dass das Aufrechterhalten der Funktionen des Denkens genau so beschrieben werden kann wie das offene Gewahrsein oder die andauernde Präsenz in der Gegenwart. Ich glaube, es ist schwer zu präzisieren, was genau Denken in diesem Fall ist, und ich habe Zweifel, ob es wirklich einen Unterschied gibt zwischen dem, worauf sich Anthroposophen als auf die Aufrechterhaltung der Funktionen des Denkens bezieht und dem, was andere Traditionen mit der Präsenz in der Gegenwart meinen.

Das würde bedeuten, dass, was ein Zen-Mönch tut, wenn er sich zuerst auf den Atem fokussiert, vielleicht unterstützt mit Zählen, und dann fortschreitet zu Shikantaza (wach zu bleiben auch ohne die Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes zu richten) der anthroposophischen Meditation sehr ähnlich ist. Buddhistische Mönche sind durch ihre Praxis sehr ausgebildet in fokussierter Aufmerksamkeit ebenso wie in offenem Gewahrsein, und sie wären wohl sehr geeignet für anthroposophische Meditation. Es würde dann vor allem darum gehen, diese Fähigkeiten zu verbinden mit einem Zugang zu einem tieferen Wissen über bestimmte Objekte (Pflanzen, Tiere, Schicksal etc.).

Der Unterschied zwischen buddhistischen und anthroposophischen Methoden scheint vor allem zu sein, dass im Buddhismus kein Wissen über die spezifische, tiefere Natur eines Objektes angestrebt wird, und dass, wenn gelegentlich Visionen oder Inspirationen auftreten, diese als Ablenkung angesehen werden. Dennoch kann man wohl sagen – das zeigt auch die Beschäftigung mit der Praxis etwas eines Shinzen Young – führen buddhistische und anthroposophische Meditation zu gleichen Erfahrungen. Die Unterschiede scheinen vor allem lehrmäßiger Art zu sein (und ich würde vermuten, dass, soweit solche Unterschiede stark betont werden, ein Mangel an meditativer Praxis in beiden Traditionen vorliegt).

Weiterhin bin ich auch nicht davon überzeugt, dass buddhistische und anthroposophische Meditation zu unterschiedlichen Erfahrungen des „Ich“ führen (im Buddhismus geht es um die Auflösung des Ich und in der Anthroposophie um die Verbindung mit dem höheren Ich). Die Erfahrung des Nicht-Selbst kann genau dieselbe sein wie die des höheren Selbst, und das Urteil in dieser Frage sollte bestimmt sein von den Tiefen der eigenen Erfahrung und nicht von gelehrten Argumenten. So wie Shinzen die Erleuchtung beschreibt, beinhaltet sie nicht nur die Aufgabe des Selbst, sondern auch die Freigabe der eigentlichen Persönlichkeit als Ergebnis der Verringerung des egoistischen Selbstbewussteins.

Ich denke, die buddhistische Tradition sollte für ihre Förderung hoher Ausprägungen von FA- und OM-Zuständen anerkannt werden. Wenn es darum geht, Meditation in die akademische Erforschung des Bewußtseins einzubringen, sind diese Fähigkeiten Voraussetzung, und hier können, glaube ich, Anthroposophen viel vom Know-How anderer Traditionen lernen.

Dennoch sollte die besondere Natur anthroposophischer Meditation und des Schulungsweges nicht heruntergespielt werden. Ich habe schon hervorgehoben, dass sich Anthroposophie durch die Betonung ihres wissenschaftlichen Charakters von anderen Traditionen unterscheidet. Diese Betonung der Wissenschaft und des Wissens von der Welt ist soweit ich weiß einzigartig. Zwar haben auch manche Formen des Yoga diese Betonung, doch wird der ganze Schulungsweg dort doch unter der Perspektive der Befreiung gesehen (moksha).

Man sollte nun aber nicht meinen, dass wegen der wissenschaftlichen Orientierung der Anthroposophie die Idee der Befreiung keine Bedeutung und keinen Einfluss hätte auf den ganzen Schulungsweg. Das wäre ein Missverständnis. In der Anthroposophie wird vom Menschen gesagt, dass er einen bestimmten Erkenntnisdefekt habe. Um ein Individuum zu werden ist er von seiner Umgebung, von der spirituellen Quelle seines Seins getrennt worden. Wissenschaft ist einfach das Mittel, um den ganzen Menschen wieder in Verbindung zu bringen mit der ganzen Welt, was die moralische Entwicklung ebenso einschließt wie die Heilung des Erkenntnisdefektes. Es geht nicht um abstraktes Wissen, sondern um die Verbindung mit dem Kosmos durch Herz und Gefühl.

Ins Deutsche übersetzter Ausschnitt eines Beitrages für den internen Korrespondenzbrief der Goetheanum Meditation Initiative Worldwide