Lydia Fechner: Warum mich anthroposophische Meditation überzeugt

Bei der anthroposophischen Meditation geht es für mich nicht um Innerlichkeit, um ein Versenken in die eigene Seele, sondern um einen Weg, der zu (geistigen) Begegnungen führt. Er besteht deshalb für mich nicht ausschließlich im Ausüben der Meditationen. Er erfährt sein eigentliches Ziel in einer sich immer mehr steigernden Intensität des Lebens und Erkennens selbst, im sich steigernden Interesse an Menschen, an der Natur, an allen Vorgängen der geschaffenen Welt. Aber auch an dem, was ständig Neues entsteht durch menschliche Kreativität.
Das Besondere daran ist, dass das Ich im Zentrum bestehen bleibt, sich sogar verstärkt, aber transformiert: von einem selbstbezogenen Wesen zu einem echten Weltwesen, das bei sich bleibt, obwohl es die Qualität der Selbstlosigkeit erwirbt. Das Üben konzentrierter Aufmerksamkeit ist nicht Selbstzweck; es geschieht, damit sich die Welt in mir individualisiert wiederfinden kann. So wird das Ich eins mit allem, was da ist, indem es höhere Formen seiner selbst hervorbringt. Anthroposophische Meditation geschieht nicht losgelöst von dieser Verheißung des freien Geistes als dem höchsten Ideal des Menschen. Dieses Ideal ist der Leitstern, dessen Licht jedes normative, regelhafte und schablonenhafte spirituelle Streben verbrennt. Anthroposophische Meditation kann man vielleicht auch als Weg zur Realisierung absoluter Individualisierung begreifen. Sie setzt den Willen voraus, sich in totaler Weise auf sich selbst zu stellen. In dieser Radikalität liegt ihr Reiz, aber auch ihre Gefahr: wird das Ideal unterwegs verloren, entsteht eine Geistigkeit, die bürgerlicher, schülerhafter, unselbständiger im Urteil nicht sein könnte. Ein Gegenbild dessen, was Sinn der ganzen Anthroposophie ist.

Lydia Fechner ist Mitglied der Redaktion der Monatszeitschrift „Die Drei. Zeitschrift für Anthroposophie in Wissenschaft, Kunst und sozialem Leben„.